Die „Flüchtlingskrise“ ist nicht vorbei. Sie wurde nur mithilfe von Unternehmensberatungen bürokratisiert und aus der öffentlichen Wahrnehmung entfernt. Aus sichtbaren, menschlichen Schicksalen wurden Zahlen gemacht. Zahlen, die mithilfe von Methoden zur Effizienzsteigerung oder mit „Prozessbeschleunigungsmaßnahmen“ abgebaut werden sollen. Dabei bleibt das Recht auf Asyl immer häufiger auf der Strecke. Psychisch Kranke, Vergewaltigungsopfer und Kriegsflüchtlinge werden in den Mühlen der auf Effizienz getrimmten Behörden entmenschlicht und zurück ins Elend geschickt. Kurz: Die Bundesregierung macht AfD-Politik – in vorauseilendem Gehorsam und aus Angst, die Gunst einiger WählerInnen zu verlieren.

Keine Einzelfälle …

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Marjam Bhezad ist Hebamme in Afghanistan. Sie wird zu einer Geburt gerufen. Mutter und Kind schweben in Lebensgefahr. Das Kind stirbt bei der Geburt. Danach verändert sich Bhezads Leben für immer. Sie wird vom Vater des totgeborenen Kindes bedroht. Das Dorf richtet sich gegen sie. Bhezads Ehemann erfährt, dass der Vater ein hoher Taliban-Führer ist. Das Ehepaar flieht mit Kind nach Zentralafghanistan. Doch auch hierhin reicht der lange, brutale Arm der Taliban. Bhezads Familie wird so stark bedroht, dass sie das Land verlassen müssen. Doch auch in Deutschland sind sie nicht in Sicherheit. Ihr Asylantrag wird abgelehnt, da sie „nur“ aufgrund des toten Kindes von den Taliban bedroht seien – so der Ablehnungsbescheid des BAMF.

Ahmad Hassani (Name von der SZ geändert) lebt seit 2003 in Deutschland und hat hier jahrelang gearbeitet. Er ist körperlich und psychisch krank. Er wird in Afghanistan von den Taliban bedroht, da er sie vor seiner Flucht als Kommandeur einer Mudschaheddin-Einheit bekämpft hatte. Doch obwohl er seit über einem Jahrzehnt in Deutschland lebt, versucht das BAMF ihn abzuschieben. Anfang des Jahres brach er kurz nach dem Verlassen des Abschiebe-Flugzeugs auf dem Kabuler Flughafen zusammen und wurde von afghanischer Seite zurückgeschickt. Doch die deutschen Behörden versuchten es erneut. Hassani saß schon fast wieder im Flieger als das Bundesverfassungsgericht einschritt, da sein Asylantrag nicht ausreichend gewürdigt wurde. Erst nach einem zähen Ringen und immensem Stress korrigierte das BAMF frühere Entscheidungen. Hassani darf bleiben.

… sondern System – haarsträubende Ablehnungsbescheide

Einzelfälle könnte man denken. Doch vieles deutet darauf hin, dass diese Ablehnungen aus hanebüchenen Gründen eben keine Einzelfälle sind, sondern System haben und dazu dienen, mehr Ablehnungen und Abschiebungen herbeizuführen.

Das zuständige BAMF benutzt zunehmend Textbausteine in seinen Ablehnungsbescheiden. Diese Bausteine „werden sinnlos aneinandergehängt und Sachverhalte passend gemacht“ (hier). Ein Beispiel für einen solchen Textbaustein: Afghanen werden immer häufiger abgelehnt, obwohl sie von den Taliban verfolgt werden. Begründung der Ablehnung ist, dass die Taliban ihre Gegner in Afghanistan gar nicht finden könnten, weil es kein Melderegister gibt. Die Flüchtlinge könnten laut BAMF also auch innerhalb Afghanistan in sichere Regionen flüchten.

Dazu passt die Entscheidung der Bundesregierung, Afghanistan als Land mit sogenannten „inländischen Fluchtalternativen“ darzustellen. Die Annahme dahinter: Afghanistan sei insgesamt so sicher, dass Flüchtlinge aus umkämpften in sichere Regionen fliehen könnten und in die man die geflüchteten Menschen auch abschieben kann. So sank die Gesamtschutzquote für Afghanen zwischen 2015 und August 2016 von 78% auf 48%. Das heißt, mehr als die Hälfte aller afghanischen Schutzsuchenden werden vom BAMF abgelehnt und sind ausreisepflichtig. Im Dezember 2016 wurden zum ersten Mal nach 12 Jahren wieder Afghanen mit Ziel Kabul abgeschoben. Seitdem gab es vier weitere Abschiebeflüge (Stand: 25.04.17).

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Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, berechnet das BAMF dem Antragsteller auch die Wahrscheinlichkeit, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Auf Grundlage veralteter Zahlen (von 2015) ergibt sich laut BAMF eine Wahrscheinlichkeit von 0,073%. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass sich die Sicherheitssituation in Afghanistan verschlechtert hat und sogar das Auswärtige Amt jeden zweiten Distrikt Afghanistans für unsicher oder sehr unsicher hält.

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Knapp 40% aller Distrikte sind unter Kontrolle von Aufständischen oder umkämpft. Selbst in der vermeintlich sicheren Hauptstadt kam es allein im Zeitraum von Januar bis März 2017 schon zu „fünf großen Anschlägen mit mindestens 132 Toten“. 2016 stieg die Anzahl der Attentate um 75%. Ein weiterer Beleg für die unsichere Lage in Afghanistan ist der Rekordstand bei den zivilen Opfern und den Binnenvertriebenen (Höchststand seit 2009).

Die Bundesregierung schickt Menschen in ein Land zurück, in dem gewalttätige Aufständische wieder an Boden gewinnen

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Das „schlanke“ BAMF und die Unternehmensberater

Rückblende: Das BAMF im Sommer 2015. Nach jahrelangen Sparmaßnahmen liegen schon 300.000 unerledigte Asylanträge auf den Ablagen der Beamten. Die Behörde hat nur noch 2.000 Mitarbeiter, die ab dem Sommer 2015 nicht mehr nur die Altfälle, sondern nach dem Zuzug hunderttausender Menschen noch eine Vielzahl neuer Anträge bearbeiten müssen.

Im Herbst 2015 und den darauffolgenden Monaten werden die Unternehmensberatungen McKinsey, Roland Berger und Ernst & Young für 25 Millionen Euro verpflichtet, um die Bearbeitung der Asylanträge zu beschleunigen. (…)

Insgesamt herrscht eine Arbeitsteilung vor, als ginge es darum, Pakete im Logistikzentrum richtig zu sortieren, statt über menschliche Schicksale zu entscheiden.

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 «Früher haben Entscheider die Flüchtlinge selbst angehört, haben sich ihr Schicksal beschreiben lassen und dann entschieden» (hier).

(…) Seitdem kam es zu einer personellen Trennung zwischen Anhörung („Anhörer“) und Entscheidung über den Flüchtlingsstatus („Entscheider“).

Mitte 2016 werden im BAMF schon 4 von 5 Anträgen allein aufgrund von Akten entschieden, ohne dass die entscheidenden Beamten („Entscheider“) den Flüchtling persönlich sprechen konnten. Nachfragen wurden unmöglich gemacht. Details, die für die Entscheidungsfindung wichtig sein könnten und die von anderen Beamten, den „Anhörern“, nicht erfragt wurden, bleiben außen vor. Viele Antragssteller werden wegen „mangelnder Glaubwürdigkeit“ abgelehnt. Doch es stellt sich die Frage, wie jemand über die Glaubwürdigkeit entscheiden will (der Entscheider), der gar nicht an der Anhörung des Flüchtlings teilgenommen hat. „Anhörer“ würden die Glaubwürdigkeit in einigen Fällen ganz anders einschätzen als die „Entscheider“.

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Es ist menschlich, dass Arbeitsteilung, der Zeitdruck und die Kontrolle zu einer „oberflächlichen und fehlerhaften Arbeitsweise“ führen, wie der Personalrat der Behörde vermerkt. Innerhalb dieser kursiert sogar ein anonymer Brief von Mitarbeitern:

«Der Mitarbeiter als Mensch, der Asylbewerber sowieso […] spielt keine Rolle mehr. Die Zahlenfetischisten regieren durch – Rechtsbrüche sind vollkommen egal» (hier).

Auch beim Flüchtlingsthema regiert die „schwarze Null“

Das Problem ist weniger, dass zu viele Flüchtlinge kamen und die Beamten plötzlich überfordert gewesen wären. Der Staat stellte vielmehr nicht ausreichend Mittel zur Verfügung, um die Asylanträge der Flüchtlinge zu bearbeiten.

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Auch beim Flüchtlingsthema steht die „schwarze Null“ im Mittelpunkt. Und das Spar-Paradigma trifft wie in jedem Bereich die Schwächsten am härtesten. Viele Flüchtlinge können sich keine guten Anwälte leisten, um gegen eine schlecht begründete Ablehnung zu klagen. Die Dominanz der Zahlen und der Effizienz, die hektischen, mit Rechtsbrüchen verbundenen Ablehnungen von Asylanträgen zur Verringerung der Zahl der offenen Anträge, sie unterscheiden sich vom Grundsatz her nicht von der künstlich reduzierten Zahl der Arbeitslosen. Der einzelne Mensch wird in beiden Fällen zur Statistik degradiert.

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Immerhin kann die Bundesregierung „effiziente“, schöne Zahlen präsentieren und sich als vermeintlich effiziente Problemlöserin stilisieren.

 

Hinweis:

Dies ist ein leicht gekürzter Artikel, der zunächst auf Makroskop.eu erschien. „(…)“ zeigt Kürzungen an.

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