Der individuelle, nachhaltige Konsum als vermeintliche Lösung für gravierende Weltprobleme ist ein Trugschluss. Er versperrt den Blick auf strukturelle Probleme.
Wir sollen keine Plastiktüten kaufen und keine Kaffee-To-Go Becher, keine Kaffee-Kapseln und kein Obst aus Übersee. Stattdessen Bio-Fleisch oder besser gleich vegetarisch, lokales Gemüse und Fair-Trade-Produkte.
Wenn man mit entwicklungspolitisch Engagierten spricht oder die diversen, neu aufkommenden Nachhaltigkeitsmagazine liest, bekommt man den Eindruck, wir könnten uns die Welt an der Supermarktkasse nachhaltig und gerecht kaufen.
Ich will mit diesem Einwurf nachhaltige Lebenswege nicht schlecht reden. Auch glaube ich, dass wir den Klimawandel nur stoppen und globale Gerechtigkeitsprobleme nur dann überwinden werden, wenn wir zu Veränderungen bereit sind und sich viele von uns gesellschaftlich einbringen.
Doch individuelle Lösungswege werden nicht ausreichen. Ich halte es für falsch, sie in den Mittelpunkt der Nachhaltigkeitsdebatte zu stellen und Menschen, die nicht mitmachen wollen oder aus finanziellen Gründen nicht mitmachen können ein schlechtes Gewissen einzureden – wie es leider noch immer allzu häufig getan wird.
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, den Fokus auf individuelle Lösungen kritisch zu sehen.
Mangelhafte Reichweite
Provokant gefragt: Was bringt es, wenn die eine zwar Vegetarierin wird, aber jedes Jahr in den Urlaub fliegt? Was bringt es, wenn der andere zwar grünen Strom kauft, aber seine Rentenkasse beispielsweise den klimaschädlichen Individualverkehr oder Waffenexporteure finanziert?
Wer diese Argumente als an den Haaren herbeigezogen ansieht, der sollte einmal den eigenen ökologischen Fußabdruck berechnen (hier). Nachhaltige Konsumentscheidungen in einigen Lebensbereichen sind bei unserem mittlerweile üblichen Lebensstil ein Tropfen auf den heißen Stein.
Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass es Grünen-Wähler sind, jene mit dem vermeintlich nachhaltigsten Bewusstsein, die am häufigsten fliegen (hier) – also das klimaschädlichste Verkehrsmittel wählen. Ein klarer Beleg, dass aus einem vermeintlich nachhaltigen Individual-Bewusstsein nicht unbedingt ein klimafreundliches Handeln entsteht.
Die mangelhafte Reichweite individuellen Handels wird auch anhand der Angebotsseite deutlich. Bei allzu vielen Produkten gibt es gar keine nachhaltigen oder unter fairen Bedingungen produzierten Alternativen. Oder kennen Sie einen „fair“ produzierten Fernseher, Laptop, Mixer oder Staubsauger (vom Abbau der Rohstoffe bis zur Endfertigung irgendwo in Asien)?
Ein beliebter Spruch bei gutmeinenden „Weltrettern“ lautet:
«Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern.»
Das mag theoretisch stimmen, ist aber in der Realität stets Utopie geblieben. Wenn man durch die deutschen Innenstädte zieht, sieht man nicht allzu viele Menschen, die auf das 10te H&M-T-Shirt verzichten wollen und sich die Mühe machen, fair hergestellte T-Shirts zu kaufen.
Will sagen: Die gepredigten Individual-Lösungen treffen bei der breiten Bevölkerung auf taube Ohren. Sie mögen in einigen universitären Zirkeln und in progressiven Stadtteilen begeistert umgesetzt werden, aber sie werden nicht zu einer ausreichend hohen Verbreitung finden, als dass durch individuelle Konsum- und Lebensstile das Klima zu retten oder für spürbar mehr globale Gerechtigkeit gesorgt wäre.
Zwar wächst der Umsatz des fairen Handels (hier) seit Jahren, doch noch immer geben die Deutschen im Durchschnitt nur 14 Euro pro Jahr für faire Produkte aus (hier). Das sind nicht mal zwei der günstigsten fair hergestellten T-Shirts (hier).
Auf dem zweiten Auge blind
Hinzu kommt, dass die vermeintlichen logischen, individuellen Handlungsoptionen die wahren Problemursachen verkennen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Plastikmüll in den Weltmeeren. Auf den ersten Blick erscheint es nur logisch und sinnvoll, an der Supermarktkasse auf Plastiktüten zu verzichten, unverpackte Lebensmittel zu kaufen oder anderweitig Plastik einzusparen. Doch ist das ausreichend, um das Plastikproblem in den Weltmeeren zu bekämpfen?
Aus dem Meeresatlas der Böll-Stiftung (hier) wird ersichtlich, dass die fünf größten „Plastikemittenten“ – China, Vietnam, Indonesien, die Philippinen und Sri Lanka – doppelt so viel Plastik in die Weltmeere eintragen wie die Länder auf den Rängen 6 bis 20. Allein China ist für circa 25mal mehr Plastikmüll in den Weltmeeren verantwortlich als die 23 EU-Küstenstaaten zusammengenommen. Deutlicher können Zahlen gar nicht veranschaulichen, dass ein individueller Plastikverzicht global betrachtet kaum positive Auswirkungen haben wird. Eine Lösung des Plastikproblems ist ohne China nicht zu erreichen.
Das Plastikproblem belegt auch die Inkohärenz individueller, vermeintlich nachhaltiger Konsumentscheidungen. Da wird dann auf den Plastikdeckel auf dem Kaffee-To-Go-Becher verzichtet, was auf den ersten Blick richtig ist. Aber es wird nicht nachgefragt unter welchen Bedingungen Kaffee angebaut wird. Und dass die Herstellung von 1kg Röstkaffee über 20.000 Liter Wasser bedarf – umgerechnet in einer Tasse Kaffee also 140 Liter Wasser stecken (hier).
Dass Wasser, welches in unseren importierten Genussmitteln steckt, der lokalen Bevölkerung in den Anbaugebieten fehlt, darüber denkt der Konsument und die Konsumentin nicht nach. Daran wird auch deutlich, dass von Organisationen wie Greenpeace und WWF immer nur eine „Nachhaltigkeitssau“ durchs Dorf getrieben, die Aufmerksamkeit aber nie auf alle Nachhaltigkeitsprobleme gelenkt werden kann.
Kurz: Den vollkommen informierten, nachhaltigen Konsumenten wird es wahrscheinlich nie geben. Auch deswegen reicht der individuelle Konsum als Lösung globaler Probleme nicht aus.
Die Politik wird aus der Verantwortung entlassen
Der Fokus auf den individuellen Konsum und Lebensstil übersieht zudem die politische Ebene. Es ist nicht schwer zu „prophezeien“, dass es ohne den politisch herbeigeführten Atomausstieg und ohne das auf politischer Ebene geschaffene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) niemals zur Energiewende gekommen wäre – so kritisch man diese auch sehen mag (hier).
Individuelle Entscheidungen zum Umstieg auf erneuerbare Energien hätten nie zu einer ausreichend hohen Nachfrage geführt, als dass die Stromanbieter von sich aus auf günstigeren Atomstrom verzichtet hätten. Die Energiewende wurde erst durch eine politische Steuerung und einen Eingriff in den freien Markt angeschoben.
Auch die Geschichte sozialer Fortschritte zeigt wie wichtig staatliche Eingriffe sind. Die 40-Stunden-Woche und andere Arbeitnehmerrechte wurden nicht erkämpft, weil die Ausbeuterfirmen damals boykottiert worden wären. Sondern weil sich die Arbeiter zu Gewerkschaften zusammengeschlossen und ihre Rechte in der Auseinandersetzung gegen andere Interessengruppen erkämpft haben. Der Boykott von Modemarken, die ihre Textilien in Ausbeutungsbetrieben in Bangladesch oder Pakistan nähen lassen, sorgt hingegen nur für ein kurzes mediales Empörungsflackern, nicht aber für eine dauerhafte Überwindung ungerechter Strukturen (hier).
Mit dem alleinigen Fokus auf den Bio-, Öko- und Fair-Trade-Konsum entlassen wir die Politik aus ihrer Verantwortung für nachhaltigere und global gerechtere Strukturen zu sorgen. Und der vermeintlich nachhaltige Individualkonsum wird nur allzu gerne von der Politik als Lösung aufgegriffen.
So belehrt Entwicklungsminister Gerd Müller in öffentlichen Reden seine Zuhörer allzu gerne, doch bitte auf Kaffeekapseln oder beim Kaffee-To-Go auf den Pappbecher zu verzichten. Darüber wie wenig ein Kaffeebauer verdient und warum die Politik hier keine höheren Preise oder eine Weiterverarbeitung und Wertschöpfung im Anbauland des Kaffees unterstützt, schweigt sich der Minister dann allzu gerne aus. Der individuelle Konsum wird über strukturell nachhaltige Lösungen gestellt.
Ganz ähnlich die kostenintensive Marketingkampagne des BMWi für mehr Energieeffizienz (hier). Mehr Effizienz ist schön und gut. Aber wenn immer mehr Elektrogeräte gekauft werden, wird die höhere Energieeffizienz des Einzelprodukts vom steigenden Gesamtverbrauch aufgezehrt (siehe zu diesem Rebound-Effekt hier).
Handlungsoption des individuellen Konsums macht blind für strukturelle Probleme
Der Fokus auf nachhaltige Konsumstile droht blind für drängende Strukturprobleme zu machen. Wer glaubt, allein an der Supermarktkasse die Welt verbessern zu können, der neigt nicht dazu, sich mit schädlichen Währungs- und Rohstoffspekulationen, komplexen Handelsfragen, einem Finanzsystem, das nicht mehr den Menschen dient, globalen Lieferketten und ihren Menschenrechtsverletzungen oder Steuerflucht zu beschäftigen.
Wir müssen weg von der Bequemlichkeit der einfachen, nur vermeintlichen Problemlösungen. Vielmehr braucht es eine Perspektive, die den komplexen Problemursachen des Klimawandels und globaler Gerechtigkeitsprobleme gerecht wird.
Das ist langwierig, mühsam und verursacht vielleicht Kopfschmerzen. Aber es ist unabdingbar, wenn wir globale Zukunftsfragen wirksam angehen wollen.
Dieser Kommentar erschien zuerst auf Makroskop.eu.
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Alles richtig, aber das individuelle private Engagement ist trotzdem wichtig, sonst besteht die Gefahr zu denken „die (wer die?) sollen das endlich machten“
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Nico, die Handlungsoptionen des individuellen Konsums sind sehr wichtig. Und wir sollten nicht auf diese verzichten!!! Aber – wie Du richtig darstellst – reichen diese überhaupt nicht aus, um die Probleme ’strukturell‘ ( d.h. die kannibalistische Welt-Wirtschaftsordnung beseitigend) anzugehen und zu lösen. Deine Darstellung ist natürlich provokant – aber sie ist in der Sache zutreffend.
Ich darf auf einen weiteren sehr informativen Aufsatz zu diesem (erweiterten) Thema hinweisen:
„Was der soziale Kampf mit dem Kampf gegen den Klimawandel zu tun hat“ – von dem
belgischen Ökosozialisten Daniel Tanuro, 01.07.2015 – Was ist Ökosozialismus?
in der SoZ Sozialistische Zeitung.
Dort wird die Variante des marxistisch, internationalistisch geprägten Ökosozialismus
vorgestellt. Die dortigen Aussagen halte ich für sehr zutreffend!
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Natürlich muss es politische Entscheidungen geben und für die muss gekämpft werden, aber das als Gegensatz zu persönlichem Engagement und fairen Konsum aufzupumpen geht völlig am Thema vorbei, mir ist jemand lieber der regional hergestellte Lebensmittel einkauft, faire Klamotten kauft und in Urlaub fliegt, als jemand der gedankenlos einkauft und auch in den Urlaub fliegt, das sind die Gegensätze. Natürlich ist durch private Entscheidungen nicht die Welt zu retten, aber ohne Menschen die ihr persönliches Leben ändern, schaffst du es eben nicht politische Entscheidungen herbeizuführen. Durch die Denunziation dieser Menschen als quasi Gutmenschen bekämpfst du die, die deine Idee eigentlich unterstützen und schwächst sie, und lieferst dem politischen Gegner Munition. Meiner Meinung nach ist deine Argumentation im jeder Hinsicht kontraproduktiv.
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Ich finde, es geht eben nicht völlig am Thema vorbei. Ich kenne genug Menschen, die „Fairen Konsum“ als Form des Engagements predigen (privat und sogar als Job) und dabei strukturelle Faktoren und politisches Engagement total außen vor lassen (obwohl ihr Job ihnen hier jede Menge Spielraum gäbe, auch diese strukturellen Faktoren zu thematisieren).
Ich finde nachhaltigen Konsum auch sehr gut und unterstützenswert, aber es gibt zu viele Menschen die denken, damit hätten sie ihren Teil getan und wenn sich nur jeder so verhielte wie sie, wäre die Welt ein guter Ort. Fairer Konsum wird viel zu häufig zum ausreichenden politischen Engagement erklärt. Das muss man thematisieren und kritisieren dürfen, ohne gleich ins „andere politische Lager“ gesteckt zu werden und als Nestbeschmutzer der nachhaltigen Sache zu gelten!
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